I want to break free…
Wenn Enge greifbar wird.
Elterngespräch in einem schwierigen Fall. Mein Schüler, sein Vater, die Klassenlehrerin und ich.
Da sitzen wir.
Ein verzweifelter Vater, der sich beide Beine ausreißt für seine Kinder und dennoch andauernd die Erfahrung macht: Es ist nicht genug!
Er ist sichtlich angespannt, etwas nervös, sieht müde aus. “Ja, das mache ich.” sagt er immer wieder. Fährt sich dann mit den Händen über das Gesicht. “Ja das kriegen wir hin.” “Hörst du, mein Junge, du musst alles geben!?” “Es ist sehr viel für mich.”, sagt er.
Da sind zwei Jobs, eine Trennung, Kinder, die in der Schule Probleme bereiten. Der eine Sohn in Hinblick auf Verhalten, der andere Sohn in Hinblick auf Lernen und kognitive Entwicklung. Es gibt noch ältere Kinder, vielleicht machen die auch Probleme, ich kenne sie nicht. Aber egal ob Probleme oder nicht, die Kinder brauchen ihre Eltern.
Ich sehe diesen Papa und spüre förmlich diesen Druck und diese Enge, die Sorge und die Hoffnung auf eine Besserung. Ich sehe, wie er versucht es jedem recht zu machen, er weiß was wir als Lehrerinnen hören wollen, hören müssen von ihm, denn wenn wir es nicht hören…was wären dann die nächsten Schritte?
Da ist die Klassenlehrerin, eine resolute Person, das Herz am rechten Fleck, aber mit ganz klaren Erwartungen an alle Beteiligten. Ihre Art hat etwas Zwingendes. “Es geht nicht anders!” sagt sie mehrfach. “Es muss jetzt aber.” Das sagt sie auch. Sie sieht alle immer wieder intensiv an. “Was mache ich wenn…?” “Wie gehen wir damit um, dass….?”, fragt sie mich.
Neben ihrer klaren und etwas herben Art spüre ich auch eine Art Verzweiflung gepaart mit einem hoffnungsvollen Trotz. “Na, wir werden das Kind schon schaukeln, oder?!”sagt sie zu mir. Mehr Aufforderung als Frage.
Sie will alles, was ich vorschlage möglich machen. Aber wie? Der Druck die 24 Schülerinnen und Schüler alle in die vierte Klasse zu bringen, allen den nötigen Stoff zu vermitteln, allen gerecht zu werden, nicht hinter der Parallelklasse zurückstehen. Es ist einfach kein Platz für Störungen. Es ist kein Platz für Eltern, die nicht erreichbar sind und keine Elternbriefe lesen (aus welchen Gründen sie sie nicht lesen können, steht gar nicht zur Debatte).
Das ist kein Vorwurf, es ist eine recht bittere Realität. In der Schule müssen alle Zahnrädchen laufen, sonst hakts und das ist nicht vorgesehen. Empathie für Eltern, die nicht funktionieren ist vielleicht da, aber mehr kann man auch nicht machen.
Es muss aber laufen! Ein großer Satz, der im Raum steht.
Aber, was, wenn nicht?
Da sitzt mein (derzeitiger) Schüler. Drittklässler. Er lächelt, er nickt. “Jetzt hab ich es verstanden.”, sagt er. Weil er weiß, dass wir das alle hören wollen. Aber sein Blick schweift immer wieder ab und er schaut ins Leere. Ich glaube ihm, dass er es versteht, aber er kann es nicht umsetzen. Emotionale Überlastung. Ich versichere ihm, dass wir für ihn da sind, dass wir ihm helfen wollen, dass er mit uns reden kann und uns erklären kann, was bei ihm los ist. Er nickt. Von der Seite beschwört sein Vater ihn immer wieder: “Du musst brav sein, mein Junge.”
“Ich weiß.”, sagt er. Er weiß.
Am Tisch sitzen nie nur die beteiligten Gesprächspersonen. Das habe ich in der systemischen Beratung gelernt. Und nach dem Gespräch (leider erst danach) wurde mir das noch einmal so richtig bewusst. Da sitzt ein Papa und hinter ihm eine ganze Familie, die etwas will, zwei Chefs, die ihn fordern, vielleicht noch der Druck und die Erwartung der eigenen Eltern: “Du musst ein guter Junge sein!”
Hinter der Klassenlehrerin ebenfalls. Da sitzt auf einer Ebene die Schulleitung mit am Tisch, die anderen Eltern, die von ihr erwarten, dass es läuft und sie ein störendes Kind gefälligst im Griff zu haben hat. Da sitzen vielleicht die Erwartungen ihres eigenen Vaters, der immer wieder sagt “Das muss aber laufen, das muss aber laufen!”, irgendwo ganz weit hinten, aber mit einer unleugbaren Vehemenz.
Da sitzt ein Kind, mit ganz eigenen Sorgen und Interessen, das sich wahrscheinlich einfach nur fragt wann dieses Gespräch endlich vorbei ist und alle aufhören auf ihn einzureden.
Da sitze ich. Der Vater tut mir im Herzen leid, das Kind ebenso. Der Klassenlehrerin würde ich gerne mehr Unterstützung anbieten, kann es aber nicht, weil ich die Kapazität dazu stundenmäßig nicht habe. Mit mir am Tisch sitzen die großen Humanisten und wollen das System umkrempeln und meine Mutter, die eigentlich immer gerne jedem alle Last von den Schultern nehmen würde und mich damit geprägt hat. “Du musst helfen, du musst was machen.”
Hunderte Leute mit am Tisch und alle wollen was. Wie kann das gelingen?
In uns allen, die wir am Tisch saßen, waberte heute das Gefühl von: I want to break free.
Einfach frei sein. Von dem Druck, der Enge, den Erwartungen von überall und den Grenzen des Systems und der zugehörigen Aufgaben.
Frei sein von: Das muss aber.
Frei sein von: Das geht nicht.
Frei sein von: Alle wollen was von mir.
Einatmen. Ausatmen.
Sicherlich sind diese Situationen bedrückend und für alle Beteiligten irgendwie belastend.
Was wir NICHT tun können, welche Grenzen wir haben, das steht meist sehr deutlich im Raum, Übrigens halte ich es für extrem wichtig das auch ganz offen zu formulieren.
Wir können ganz klar sagen, was wir uns für das Kind wünschen würden.
Wir müssen ganz klar sagen, was wir NICHT TUN KÖNNEN, auch wenn das schmerhaft sein kann.
Und dann gilt es meiner Ansicht nach sich darauf zu fokussieren was wir TUN KÖNNEN, in diesem Moment und in Zukunft.
Was wir immer tun können ist eine wertschätzende Haltung gegenüber allen einzunehmen und zu sehen, welche Bemühungen, Belastungen und Blockaden der oder die andere mit an den Tisch gebracht hat. Wir können immer minikleine Handlungsschritte formulieren. Oft denken wir, wir müssen die großen pädagogischen Geschütze auffahren. Meistens ist es aber genug Babysteps zu gehen und zu beobachten was sich tut. Wir können immer ein Mindestmaß an In-Kommunikation-bleiben anbieten.
Aus diesem Gespräch bin ich herausgegangen und hatte ein schweres Gefühl im Bauch. WIE soll es weitergehen? WIE kann es gelingen? Ich sehe noch ganz viele Fragezeichen.
Dennoch haben wir alle an diesem Tisch zusammen gearbeitet. Sind gedanklich in Möglichkeiten geblieben und nicht in Blockaden abgerutscht. Sind wertschätzend füreinander geblieben und haben uns angeschaut für wen wir das eigentlich alles machen.
Für einen kleinen Jungen, der weiß. Der aber manchmal einfach nicht kann,
Dafür lohnt es sich alles zu geben.