Ein Plädoyer für die UnzuMUTbarkeit…

Dies ist kein Songtext. Heute ist mir einfach keine passende Zeile eingefallen. Aber das Thema Unzumutbarkeit beschäftigt mich aktuell; und das kam so:

Ich saß neulich gemütlich mit meiner Tante und meinem Onkel zusammen und wir haben herrlich diskutiert. (Ich liebe diese Gespräche!)

Über Politik, das Leben, die Menschen, die Umwelt und zwangsläufig auch über das Schulsystem. Ich weiß nicht, wie es euch als Lehrer*innen da draußen geht, aber bei mir endet gefühlt jedes Gespräch irgendwann beim Thema Schule und Schulsystem.

Mein Onkel ist auf jeden Fall der Ansicht, das Schulsystem ist eine Unzumutbarkeit für Kinder und Familien und es sollte Menschen freigestellt sein, ob sie ihre Kinder in die Schule schicken oder sie alternativ unterrichten lassen. Wie auch immer dieses “alternativ” aussehen kann, es müsste die Möglichkeit dazu geben- meint er.

Ein interessanter Gedanke, den sicherlich viele Menschen teilen, er spricht für Freiheit, neue Ideen, neues Denken, raus aus starren und überholten Systemen. Ich bin immer hin und hergerissen bei diesem Thema. Ich sehe die Vorteile einer solchen Möglichkeit, ich sehe die Chancen zur Freiheit und Individualität, die dahinter stecken ich sehe aber auch Risiken und die Möglichkeit, dass diese vermeintliche Freiheit zu einer großen Schwachstelle werden könnte.

Vielleicht bin ich als Teil dieses Systems, als Kind, das - ja halt (man traut es sich in gewissen Kreisen fast nicht mehr zu sagen) gerne zur Schule gegangen ist und als Lehrerin, die ihren Job liebt, einfach betriebsblind. Vielleicht steckt hinter meiner Sicht auf die Dinge die Angst mit meiner Arbeit überflüssig zu werden. Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube wir brauchen ein Schulsystem.

Keine Frage, dass wir das Bestehende endlich einmal weiterentwickeln müssten. Keine Frage, dass Dinge im System grundlegend schief laufen, keine Frage, dass der Mangel an qualifiziertem Personal, starre Strukturen und die Möglichkeit diesen Beruf über ein ganzes Leben lang vollkommen leidenschaftslos und unqualifiziert auszuüben (diese Möglichkeit hat man nicht in vielen Berufen) dazu führen, dass Kinder und Jugendliche einfach nur total angekotzt sind von diesem System.

Mein Onkel, mit dem ich diskutiert habe, hat erlebt, dass sein Enkel am ersten Tag in seiner neuen Schule für 10 Minuten von seinem Lehrer in den Schrank gesperrt wurde “aus Spaß”. Das ist kein Witz und auch keine Anekdote aus grauer Vorzeit, es war 2022 in Rheinland-Pfalz! Der zehnjährige Junge, fand es auch nicht so “spaßig”, wie sein Lehrer es wohl gemeint hat und in diesem Falle muss man ganz klar sagen: UNZUMUTBAR! Punkt. Wahrscheinlich entsteht aus solchen traumatischen Erlebnissen auch der nachvollziehbare Wunsch nach Abschaffung des Systems.

Ich erlebe in meinem Alltag aber auch das genaue Gegenteil. Die häusliche Gewalt stieg in der Pandemie deutlich an, wie wir heute wissen. Ich kann mich auch daran erinnern, dass wir einem Schüler damals bewusst die Möglichkeit einräumten, in die Schule zu kommen, weil unklar war, was er zu Hause durchmachen muss, wenn er nicht einige Stunden in der Schule ist. Ein Einzelfall? Nein, leider nicht. Ich arbeite nur in einer mittelgroßen Stadt und habe im Laufe meines Berufslebens unzählige, verstörende Geschichten gehört und höre sie immer noch, was Kinder und Jugendliche in unserem Land zu Hause erleben. Wie sie bestraft werden, wie sie vernachlässigt werden. Traumatisiert von zu Hause.

Ich habe viele Kinder kennen gelernt, bis heute, deren einziger Rettungsanker die Schule war. Der einzige Ort an dem es Verlässlichkeit, Zuwendung und Miteinander gab.

Was passiert mit diesen Kindern, wenn es nicht mehr verpflichtend ist in die Schule zu gehen? Wo wird ihr Ort sein? Werden sie die Chance haben aus ihren Strukturen auszubrechen? Dem kann man natürlich entgegenhalten, dass auch die Schule es bisher noch nicht geschafft hat Chancenungleichheit im Bildungswesen abzuschaffen. Vollkommen richtig. Darum bin ich für Veränderung, nicht jedoch für Abschaffung.

Vielleicht kann das nicht der einzige Grund sein, das Schulsystem grundsätzlich erhalten zu wollen, aber es ist EIN wichtiger Grund für mich, gerade weil ich schon so oft erlebt habe, wie die Menschen in der Schule (Schulsozialarbeit, Lehrerinnen und Lehrer oder auch Mitschüler*innen) anderen Kindern geholfen haben.

Und da ist für mich noch mehr. Ob Kinder die Schule als traumatisierend empfinden, hängt sehr oft davon ab, wie die Mitmenschen außerhalb der Schule agieren und reagieren. Die Erfahrungen die Eltern in der Schule gemacht haben und wie sie die Schule selbst erlebt haben, geben sie oft an ihre eigenen Kinder weiter. Es gibt natürlich wirklich traumatisierende Erlebnisse in der Schule, das Eingesperrtwerden in einen Schrank, gehört für mich definitiv dazu, aber nicht alles was passiert ist traumatisierend für das Kind. Schlechte Leistungen, Versagen, Verlieren, Komfortzone verlassen und alles was damit zusammen hängt, sind für mich keine per se traumatisierenden bzw. unzumutbaren Umstände, wenn es nicht die einzigen in der Schule gemachten Erfahrungen sind.

Versteht mich richtig: Erfolg, Freude, Gewinnen gehören ebenfalls dazu. Aber sie sind nicht das Einzige, was Kinder erfahren sollten. Ich bekomme immer mehr den Eindruck, dass viele Eltern ihren Kindern jegliches Leid und alle schlechten Gefühle ersparen wollen. Und als Mutter kenne ich diese Intentionen auch (und bin auch schon in viele Fallen diesbezüglich getappt). Es soll sich keiner schlecht fühlen, alle sollen das Gefühl haben gleich gut zu sein, alle sollen gewinnen. Da kam es letzte Woche beim Fußballturnier in der Schule zu wahren Tragödien, weil manche Mannschaften verloren haben.

Wenn wir als Eltern oder Menschen, die in einer Form Einfluss auf Kinder haben stets suggerieren, dass das was in der Schule passiert schlecht, verstörend und unzumutbar ist, dann werden die Kinder auch traumatisiert, weil sie alles was sie erleben und was unschöne Gefühle auslöst, wie Versagen z.B. nicht (aus)halten können. Als nicht zumutbar empfinden. Da entsteht der Wunsch nach vollkommenem Ausstieg.

Wie entwickeln wir uns aber, wenn uns alles, was erstmal unzumutbar erscheint, genommen wird?

In dem Wort unzumutbar und zumutbar steckt MUT. Trauen wir unseren Kindern zu, mutig zu sein? Trauen wir ihnen zu, Dinge verkraften zu können? Trauen wir ihnen zu, mit Fehlern, Scheitern und Versagen umzugehen? Können wir unsere Kinder mutig machen für manchmal “unzumutbare” Dinge?

Ich habe zwei Töchter, die eine musste sich von Anfang an eher durchkämpfen in der Schule, der anderen fiel bisher alles eher leicht, sie musste sich kaum anstrengen. Wir hatten mit Dingen zu kämpfen, die ich als unzumutbar empfunden habe, z.B. das der Unterricht um 7:30 Uhr morgens beginnt (in der Grundschule), Homeschooling mit stapelweise Arbeitsblättern, seitenweise Rechenpakete mit ein und denselben Aufgaben, Sportunterricht mit FFP2 Maske, Hausaufgaben ohne Ende bei 40 Grad Celsius Außentemperatur… die Liste könnte noch eine Zeit lang fortgesetzt werden.

Manchmal habe ich meinen Kindern gesagt: “Ich verstehe dich, aber da musst du leider durch, ich weiß, du wirst es schaffen.” Manchmal habe ich mich dafür eingesetzt, dass Dinge anders laufen (damit hatte ich manchmal Erfolg und manchmal eben auch nicht). Aber egal, wie es ausging und egal wie unzumutbar manches auch erscheinen mochte, wir haben als Eltern immer versucht unseren Kindern zu vermitteln: Es gibt Dinge, die kann man nicht ad hoc ändern, du hast die Kraft das durchzustehen. Es gibt Dinge, die kann man versuchen zu verändern, aber man kann auch scheitern daran. Es gibt Dinge, die sind einfach nicht hinnehmbar und für deren Veränderung werden wir uns stark machen. Wir haben immer versucht zu suggerieren: Es ist wichtig alles zu geben. Wenn du dann scheiterst, ist es absolut okay, es gehört dazu schmerzhafte Erfahrungen zu machen. Das Leben fragt nicht, ob Dinge zumutbar sind oder nicht. Wir alle kennen diese Situationen, in denen wir unzumutbaren Umständen ausgesetzt sind. Es gibt Menschen in unserer Welt, die extrem unzumutbaren Dingen ausgesetzt sind und wir können sie nicht einfach so abschaffen.

Kann die Schule also ein Ort sein, an dem es wichtig ist zu lernen auch mit den größten Herausforderungen, mit dem Unzumutbaren umzugehen? Ein Ort, an dem ich lernen kann wann es sich lohnt sich durchzubeißen, wann es sich lohnt aufzubegehren. Ein Ort an dem ich Erfolg UND scheitern lernen kann? Ist die Schule vielmehr ein Ort der Menschwerdung als eine Bildungseinrichtung? Ist die Schule wie so vieles falsch verstanden?

Vielleicht ist Schule tatsächlich eher ein Ort des sozialen Lernens und der Herausbildung eines ICHS als das wofür sie sich ausgibt. Lesen, Schreiben, Rechnen, Erdkunde etc.- richtig, dafür braucht es wahrscheinlich nicht unbedingt Schule. Sich als Wesen in einem Gefüge begreifen, Grenzen erfahren. Macht und Machtlosigkeit erfahren, Scheitern, erfolgreich sein, Umgang mit Wut und Frust, Konfliktbewältigung, Herausforderungen annehmen, am Unzumutbaren wachsen oder eben auch nicht, dafür braucht es sie vielleicht schon.

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…the right to be wrong.

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Lose yourself.