Don’t look back in anger - oder Lehrerleben eben.
Wieder einmal begleitet mich eine Songzeile in meinem heutigen Blog-Artikel.
Das Ende des Schuljahres naht, jedenfalls in Hessen - und das ist für mich immer eine Zeit zurück zu blicken auf das was war.
Zum ersten Mal in meinem Lehrer*innen-Leben habe ich keine Klassenführung gehabt, da es mich mit einem Großteil meiner Stunden an einen anderen Standort verschlagen hat. Ich war mit dem Großteil meiner Stunden in einer Korridormaßnahme für Grundschulkinder mit starken Verhaltensauffälligkeiten und mit wenigen Stunden an meinem alten Standort bei den Abschlussjahrgängen in einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen. Wem das alles nichts sagt, kein Problem, darum soll es hier im Detail auch gar nicht gehen.
Heute während meines Schulvormittags kam nur mitten im Alltagstrubel diese Rückblick-Stimmung auf, und um die geht es gerade.
Eigentlich war alles dabei, wie immer. Krisen und auch viele schöne Momente und dann war doch auch wieder alles anders. Chaos bei den Großen, Abschluss-Vorbereitungen, Projektprüfung, zum Thema Fußball (na toll, gar keinen Plan davon und ich bin die betreuende Lehrkraft).
“Ey habla, machen Sie doch keinen Stress!”
“Was hast du zu mir gesagt?”
“Wieso? Habla heißt große Schwester!” - Aha.
Du H********, war gefühlt das meist gehörte Wort bei den Zehntklässlern, “…is’ doch nur Spaß Frau Seeler, so reden wir halt, is’ ganz normal bei uns.”
Aber bei mir doch nicht! *keuch
Fangt schonmal an, ich muss nur noch mal schnell auf’s Klo (oder Kaffee holen).
Dürfen wir einkaufen gehen, Frau Seeler?
Whaaaat?
Arbeitslehre Kiosk: Möhren und Gurken schneiden en masse, ca. 591 Käsebrote geschmiert in diesem Schuljahr und genauso viele Brezel aufgebacken.
“4 Käsebrezel? Nee, nee, jeder erstmal nur einen, Marco*!”
“Frau Seeler, ich liebe Sie ja, aber Sie gehen mir auch manchmal auf die nerven!”
“Ich weiß, das ist mein Job.”
Klassenfahrt nach Köln im letzten Oktober mit den Großen, mit Lieblingsschüler Dieter* , der sich im Kölner Zoo verlaufen hat.
“Wo bist du denn jetzt gerade, Dieter?”
“Ich will aber die Affen sehen!!!”
Elterngespräche, Kolleg*innengespräche, Schulleitungsgespräche, Schülergespräche, SchülerINNENgespräche (ja die unterscheiden sich durchaus), Gespräche, Gespräche ohne Ende.
Überhaupt frage ich mich, ob es möglich ist so viel zu sprechen und noch keine Flusen am Mund zu haben. Es ist möglich!
Weihnachtsfeier mit den lieben Kolleginnen und Kollegen, mit Singen bis zum Umfallen und Schrottwichteln:
“Esther, ich habe gute Neuigkeiten: Wir haben den Adler für die Korridorklasse erwichtelt!” *lol
(Der Adler ist ein wunderhässlicher “Schrottwichtel-Wanderpokal” - jetzt hängt er da an der Wand im Büro in der Korridorklasse).
Bei den Kleinen geht es nicht weniger turbulent zu. Grundschulkinder mit teils starken Verhaltensauffälligkeiten, da ist so ziemlich ALLES möglich - und ich meine alles:
“Hä? Wieso ist da eine Schlange in meinem Rucksack?”
Äääähhhh….Was? Da kam sie auch schon raus gekrochen. Ups, da hat wohl jemand das Terrarium aufgelassen.
Oder das kleine Mädchen, das sich auf den Boden warf und laut rief: “Ich will mein altes Leben zurück!”
Und das andere Mädchen, das mir mit der Miene eines Racheengels entgegenschrie: “Du bist das Problem, nur du bist das Problem!!!”
Zahllose Reflexionsgespräche:
“Wie hat es heute mit dem Erreichen deiner Ziele geklappt, Ronald*?”
“Mmmmm…so mittelich?!”
Und dann gab es noch so manche Fortbildung, Verbindungsstark zum Beispiel oder die systemische Beratung mit dem großen Aha-Moment:
“Soziale Systeme sind nicht instruierbar.”
Stimmt eigentlich, jetzt wo Sie es sagen, fällt es mir auch auf.
Kurz gesagt: Ich liebe meinen Beruf! Es ist immer was los.
Ich könnte hier noch seitenlang Anekdoten und lustige Zitate aufführen. Ich habe so viel gelacht im letzten Jahr mit den Kolleginnen und Kollegen, mit den Kindern und Jugendlichen.
Ich habe auch immer wieder geschimpft über bestimmte Situationen und Zustände über das System, hab mich geärgert und war auch manchmal erschrocken darüber, was Kinder alles erleben müssen und in welch schwierigen Bedingungen sie groß werden müssen und das in einem Land wie Deutschland, in dem es Wohlstand und Fürsorge für alle gibt.
Es ist nicht so! Und wir müssen beginnen die Augen zu öffnen für die Probleme, die unsere Kinder in diesem Land haben!
Da wir als Team in der Korridormaßnahme Schülerinnen und Schüler immer nur über einen relativ kurzen Zeitraum begleiten, habe ich mich so oft wie noch nie in diesem Jahr gefragt, was aus dem einen oder der anderen wohl einmal werden wird?
Ornithologe oder Förster, der, der so gerne die Vögel angeschaut hat und dem wir extra ein Plakat zur Bestimmung von Vögeln aufgehängt haben?
Fußballstar, unsere kleine, hübsche Fußballgöttin, in die alle Jungs sofort schockverliebt waren.
Wird die eine, die sich so schwer damit getan hat etwas zu tun worauf sie keine Lust hat, überhaupt irgendeinen Beruf lernen können und wird der, der unser Sorgenkind war auf die schiefe Bahn geraten oder konnten wir ihn so gut unterstützen und Hilfen installieren, dass wir vielleicht Beitrag dazu waren, dass alles gut wird für ihn?
Wir werden es wahrscheinlich nie genau wissen.
Letztlich sind wir Lehrerinnen und Lehrer eine der wichtigsten Schnittstellen zwischen Eltern, Kindern, Schulsystem, Lerninhalten und Zukunft und haben damit eine extrem große Verantwortung es gut zu machen. Unser bestes zu geben, jeden Tag. In einer guten Verfassung zu sein, um performen zu können und unsere Kinder und Jugendlichen verstehen zu können.
Es gibt keine Problemkinder, jedes sogenannte Problemkind zeigt die Symptome des dysfunktionalen Systems, in dem es sich befindet. Und diese Symptome mögen anstrengend sein, machen im Kontext aber immer Sinn.
Das müssen wir uns bewusst machen und beginnen zu wirken, FÜR das Kind!
Damit das gelingt, müssen wir gut für uns selbst sorgen, dafür dass wir körperlich, seelisch und emotional in einem stabilen Zustand sind, sonst wirft uns so manches im Laufe dieses Berufslebens einfach so um und wir haben irgendwann nicht mehr die Kraft, wieder aufzustehen.
Auch das habe ich in diesem Schuljahr gesehen.
Es ist mir gelungen gut für mich zu sorgen, dieses Mal, mehr als sonst. Durch die Arbeit an mir selbst, durch mehr Bewegung im Alltag, durch die Umstellung meiner Ernährung, durch Disziplin mir selbst gegenüber und durch die Arbeit an meinen Beziehungen, an allen. Durch Veränderung auf verschiedensten Ebenen.
Kennt ihr das Bild von diesen zwei Eulen?
Teacher at the beginning of the year.
Teacher at the end of the year.
Zum ersten Mal fühle ich mich nicht wie diese “Teacher-at-the-end-of-the-year-Eule”, trotz anstrengender Zeit und Herausforderung. Vielleicht gehe ich zum ersten Mal mit genug Energie aus diesem Schuljahr hinaus und denke vor allen Dingen daran wie viel ich gelacht habe!
Don’t look back in anger, das ist Lehrerleben.
*Alle Namen sind selbstverständlich geändert.
** Die Schlange im Schulranzen gab es wirklich. Alles wurde für Kinder und Schlange vollständig ohne Schaden gelöst. Und alle Beteiligten (bis auf die Schlange) haben sehr gelacht.